Wenn Sehen schwindet
PROFIL DES WISSENSCHAFTLERS
Professor Eberhart Zrenner ist Gründungsdirektor des Forschungsinstituts für Augenheilkunde im Universitätsklinikum Tübingen. Er studierte Elektrotechnik und später Humanmedizin in München, promovierte 1973 und habilitierte 1981 mit Arbeiten am Max Planck Institut für Physiologische und Klinische Forschung. Nach der Facharztausbildung an der Universitäts-Augenklinik in München nahm er 1989 den Ruf auf eine Professur für Augenheilkunde an der Universitäts-Augenklinik Tübingen an, deren geschäftsführender Direktor er 1991 wurde. Er erhielt zahlreiche wissenschaftliche Preise und publizierte über 450 Manuskripte in renommierten Zeitschriften.
Sein wissenschaftliches Interesse widmet er der Erforschung der Struktur und Funktion der Sehbahn und ihre Eigenschaften; degenerativen Erkrankungen der Netzhaut und des Sehnerven und die Molekulargenetik und Molekularbiologie solcher Prozesse. Derzeit arbeitet er intensiv an der klinischen Anwendung des unter seiner wissenschaftlichen Leitung entwickelten subretinalen elektronischen Implantats zur Wiederherstellung des Sehens bei Blinden. (Details unter http://www.eye.uni-tuebingen.de/zrenner ).
PRESSEBERICHT
BILD DER WISSENSCHAFT INTERVIEWT...
Es ist ein anderes Sehen
Eberhart Zrenner, ein international renommierter Augenheilkundler, über operative Möglichkeiten und Implantate bei Erblindung.
Das Interview führte Wolfgang Hess.
Wie viele Erkrankungen gibt es, die zur Erblindung führen können, Herr Prof. Zrenner?
Hunderte, in allen Abschnitten des Sehsystems. Doch viele Erblindungen werden durch seltene Krankheiten hervorgerufen, die genetisch verursacht sind. Weltweit leben etwa 40 Millionen Menschen ohne Augenlicht. Bei jungen Menschen ist Retinitis pigmentosa die wesentliche Erblindungsursache. Schätzungsweise erblinden daran in Deutschland pro Jahr 1200 Menschen. Bei Älteren ist es die altersbedingte Makuladegeneration. Sie führt zwar meist nicht zur völligen Erblindung, doch ein brauchbares Sehen im Zentrum haben solche Patienten nicht mehr. Die Makuladegeneration ist zu etwa zehn Prozent die Ursache von Erblindungen in westlichen Ländern. Die mit Gefäßneuwachstum verbundenen Formen kann man mit Spritzen ins Auge inzwischen in den Griff bekommen. Bei der sogenannten trockenen Makuladegeneration dagegen ist eine effektive Behandlung noch nicht möglich. Der Anteil der Erblindungen durch den Grünen Star im höheren Alter, das sogenannte Glaukom, ist ähnlich hoch wie bei der altersbedingten Makuladegeneration.
Welche Gefahr geht vom Grauen Star aus?
Die Trübung der Augenlinse ist in entwickelten Ländern kein wirkliches Problem mehr, weil wir Kunstlinsen einsetzen können. In wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern ist die Katarakt – wie wir Augenheilkundler sagen – immer noch Erblindungsursache Nummer eins.
Welche Rolle spielt Diabetes?
Diabetische Netzhautschäden sind in Wohlstandsländern ebenfalls eine häufige Ursache. Doch durch moderne Lasertechnik kann man die Lecks in den Blutgefäßen und das Gefäßwachstum unterdrücken, teilweise auch medikamentös.
Wie viele Menschen erblinden in Deutschland pro Jahr?
Etwa 17 000. Insgesamt gibt es hier etwa 120 000 Blinde. In Deutschland erblinden an Retinitis pigmentosa jedes Jahr mehr als 1000 Menschen. Bei ihnen degenerieren die Lichtempfänger. Die Patienten sind jung und müssen oft ein halbes Jahrhundert oder länger mit ihrer Blindheit oder einer starken Sehbeeinträchtigung leben.
Und Sie können solchen Menschen helfen?
Wir ersetzen die natürlichen Lichtempfänger im Auge durch ein miniaturisiertes Feld mit 1500 Lichtsensoren und Verstärkern. Dieser „Kamera-Chip“ wird unter die Netzhaut eingesetzt, nimmt das Bild auf und gibt es an die Nervenzellen der inneren Netzhaut weiter, die ein an Retinitis pigmentosa Erblindeter immer noch besitzt. Da die elektrische Reizung dieser Zellen Strom benötigt, pflanzen wir hinter einem Ohr eine elektromagnetische Spule ein, die mit dem Seh-Chip im Auge verbunden ist und von außen angeregt werden kann.
Wie ist die Perspektive?
Die Implantate werden immer kleiner, immer kompakter. Ab dem Moment, wenn solche Produkte von Augenchirurgen gut handzuhaben sind, setzen sie sich in der Regel auf breiter Front durch. Es sind auch andere Ansätze in Entwicklung, um Retinitis pigmentosa zu behandeln – durch Gentherapie, Implantation von Stammzell-Derivaten, Behandlung mit Wachstumsfaktoren. Konkret zur Verfügung stehen derzeit nur die zugelassenen Implantate unseres Teams mit 1500 Pixeln sowie die der US-Firma Second Sight mit 60 Pixeln.
Wie gut sehen die Operierten anschließend?
Die Sehleistung ist natürlich wegen der noch geringen Zahl von Pixeln eingeschränkt und entspricht einem etwas flimmernden und sehr unscharfen Schwarz-Weiß-Film der frühen Stummfilm-Jahre. Doch wer zuvor völlig blind war, bei dem bessert sich die Lebensqualität erheblich. Ob man wieder eine Kaffeetasse zielgenau greifen kann oder ob man sich mühevoll an sie herantasten muss, macht einen großen Unterschied. Manche Patienten erkennen auch große Buchstaben und sehen Gesichter schemenhaft.
Mit Ihrem Seh-Chip wurden bisher 46 Menschen operativ versorgt. Bei einem früheren Gespräch deuteten Sie an, dass daraus bis 2020 Tausende werden könnten. Was veranlasst Sie zu dieser kühnen Prognose?
Das ist eine Schätzung. Die Zahl stammt von der Firma Retina Implant AG in Reutlingen, die unseren Seh-Chip produziert, und sie könnte sich bewahrheiten, wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher. Die gute Perspektive ergibt sich aus der Analogie zu modernen am Markt eingeführten Medizinprodukten. Sobald ein Produkt kommerziell erhältlich ist und der Bedarf da ist, geht es los mit den großen Fallzahlen.
Wie man hört, kosten die Operationen 100 000 bis 150 000 Euro. Das ist viel Geld. Wer kann das bezahlen?
Im Moment sind die Implantate Handarbeit. Wenn sie in Serie produziert werden, sinkt der Preis. Gegenwärtig kosten sie auch deshalb so viel, weil die Entwicklung bezahlt werden muss. Ein Blick auf andere medizinische Leistungen zeigt aber, dass diese Kosten nicht aus dem Rahmen fallen. Auch ein Blindenhund kostet rund 40 000 Euro, Krebsbehandlungen oft noch mehr, obwohl sie das Leben der Patienten häufig nur um Monate verlängern. Solche Kosten werden in einem Sozialstaat von der Gemeinschaft der Versicherten getragen, wenn sie nachweislich wirksam sind und keine anderen Behandlungen zur Verfügung stehen.
Es gibt also konkrete Verträge mit den Krankenkassen?
Ja. Für eine bestimmte Zahl an Patienten werden die Kosten für die Implantation des Produkts Alpha IMS der Retina Implant AG oder unseres Wettbewerbers Second Sight übernommen.
Welchen Kostenanteil hat der Chip?
Operation und Krankenhausaufenthalt kosten etwa 20 000 Euro. Der Rest entfällt auf Chip plus Sehtraining.
Wie setzt sich ein OP-Team typischerweise zusammen?
Es handelt sich um zwei Teams. Eines kommt aus dem Bereich Schädelchirurgie und Mund-Kiefer-Chirurgie. Dieses Team verlegt die Empfangsspule hinter dem Ohr und die Leitung zur Augenhöhle, die zur Stromaufnahme des Chips nötig sind. Deren Arbeit dauert etwa zwei Stunden. Beim zweiten Team, das dann weitermacht, implantieren die Netzhautchirurgen den Chip und das Kabel-Bändchen unter die Netzhaut. Diese Arbeit dauert durchschnittlich drei bis fünf Stunden.
Warum gibt es so große Unterschiede bei der Operationsdauer?
Die Positionierung des Chips ist entscheidend. Er muss direkt unter die Makula, die Stelle des schärfsten Sehens, bugsiert werden. Das ist eine knifflige Mikrometerarbeit unter dem Mikroskop, die ich sehr bewundere.
Operieren Sie selbst?
Manchmal bin ich dabei, aber ich operiere nicht selbst. Meine Aufgabe liegt vor und nach der OP. Ich berate interessierte Patienten und helfe unseren Partnern in den anderen Zentren bei der Beurteilung und Planung von Operationen. Und ich bin verantwortlich für das Patientendossier vor dem Eingriff. Anschließend betreue ich die Patienten zusammen mit unseren Studienärzten. Die Steuerung der Untersuchungsabläufe beim ersten Einschalten des Chips, etwa zwei Wochen nach der OP, ist mein intensivster Part. Der Patient muss an das herangeführt werden, was er zu erwarten hat. Es geht ja nicht plötzlich das Licht an, sondern er sieht Hell-Dunkel-Szenen. Er muss lernen, die Lokalisation von Gegenständen, seine Hände und seine Greifbewegungen mit dem Seheindruck neu zu koordinieren. Und er muss lernen, seinen Chip je nach Umgebungslicht zu regulieren.
Sie sind somit nicht nur der Miterfinder des Chips, sondern machen sich auch noch viele Jahre nach der Operation als Patienten-Coach nützlich?
Ja. Als Augenarzt finde ich das sehr wichtig, weil die Patienten das Sehen neu lernen müssen. Es ist ein anderes Sehen, als sie es in Erinnerung haben. Es macht viel Freude, die Patienten bei der Nutzung der neugewonnenen Seheindrücke zu begleiten. Und wir lernen bei der sorgfältigen Beobachtung unserer Patienten unendlich viel, was uns bei der Weiterentwicklung des Implantats helfen kann.
Wie werden die OP-Teams trainiert?
Das Verlegen der Stromversorgung ist fast Standard, das kennen die Operateure vom Cochlea-Implantat. Den Chip zu implantieren, ist hingegen kein Standard. Das ist chirurgische Spitzenleistung. Alle künftigen Operateure üben das bei uns in Tübingen zunächst an Schweineaugen. Die ersten 27 Operationen erfolgten alle in Tübingen. Dazu wurden Operateure von auswärts eingeladen – aus London, Oxford, Budapest, Singapur. Sie schauten zu. Wenn sie ihre ersten OPs in der eigenen Klinik vornehmen, kommt ein erfahrener Netzhautchirurg von uns hinzu. Gegenwärtig haben wir acht erfahrene Operateure. Zukünftig werden die erfahrenen Netzhautchirurgen bei den großen augenärztlichen Tagungen Kurse veranstalten.
Ihr Erfolg basiert auf der frühen Erkenntnis, dass Forschungsansätze über Disziplingrenzen hinweg am erfolgreichsten sind. Hugo Hämmerle, der mit Ihnen zusammen die Retina Implant AG gegründet hat und mit dem Sie jetzt im Aufsichtsrat sitzen, ist Biologe und Biochemiker. Wie interdisziplinär arbeitet die Medizin in Deutschland?
Überall dort, wo es um moderne Technik geht, arbeiten die Mediziner gerne und intensiv mit anderen Naturwissenschaftlern, Informatikern und Ingenieuren zusammen. Das gleiche gilt für die Pharmakologen. Dass einer allein einen Durchbruch erzielt, ist selten. Doch der Beginn einer solchen Zusammenarbeit ist diffizil. Man muss erst einmal eine gemeinsame Sprache finden und dahin kommen, dass zum Beispiel ein Chirurg sich in Ruhe anhört, was ein Elektrotechniker sagt und umgekehrt, also dass sie sich gegenseitig verstehen. In unserem Fall hat es fast ein Jahr gedauert, bis die verschiedenen Berufsgruppen miteinander diskutiert haben. Dann aber purzelten die Innovationen geradezu aus den Teambesprechungen heraus.
Die Initialzündung, Retinitis pigmentosa durch ein elektronisches Implantat zu behandeln, hatten Sie und Hugo Hämmerle bereits vor 20 Jahren. Bisher wurden aber erst 46 Patienten operiert. Warum sind es noch nicht mehr Menschen?
Technische Entwicklungen in der Medizin brauchen Zeit. Bis ein Produkt alle Stufen der Zulassung hinter sich hat und am Markt eingeführt ist, kann es Jahrzehnte dauern. Die Wirksamkeit neuer chirurgischer Verfahren muss im Tierversuch erprobt werden, ebenso ihre Verträglichkeit und Biostabilität. Das allein dauert etwa fünf Jahre. Vom Beweis der Machbarkeit des Prinzips bis zur Implantation beim Menschen vergehen mindestens weitere fünf Jahre, einschließlich der technischen Entwicklung und Studiengenehmigung. Und dann ist zunächst erst ein einziger Patient operiert. Bis daraus eine klinische, multizentrische Studie wird, vergehen nochmals etwa fünf Jahre. 1995 haben wir angefangen. Im Jahr 2000 wussten wir: Es kann funktionieren. 2005 operierten wir den ersten Menschen. 2013 bekamen wir dann die Zulassung für ein marktgängiges Produkt.
Wer finanziert das über eine solch lange Zeitspanne?
Ich bin sehr dankbar, dass uns das Bundesforschungsministerium zehn Jahre lang unterstützt hat. Einen anderen Investor hätten wir in dieser Phase nie bekommen. Wenn die Machbarkeit bewiesen ist, reduziert oder stoppt der Staat allerdings seine Finanzierung. Dann werden private Mittel benötigt. So mancher Forscher fällt dadurch in ein „Schwarzes Loch“ – und viele Ideen verschwinden. Wir haben uns die Mittel durch Gründung einer Aktiengesellschaft verschafft, der Retina Implant AG. Und wir hatten das Glück, immer dann, wenn es eng wurde, auf großzügige private Investoren zu treffen, die natürlich mit Recht erwarten, dass die Mittel auch wieder durch wirtschaftlichen Erfolg zurückfließen. Da nicht alle guten medizinischen Forschungsansätze auf derart glückliche Fügungen treffen, habe ich Ende 2014 mit meinen Preisgeldern die Stiftung für Medizinische Innovationen gegründet, die erfolgversprechende Ansätze unterstützt. Und in Tübingen läuft ein Hundert-Tage-Curriculum für zehn interdisziplinäre Start-up-Teams. Meine Stiftung unterstützt diese „Start-up Summer School“, und es ist begeisternd zu sehen, welchen Reichtum an Ideen die Teams generieren. Hier hilft das Bundesforschungsministerium – die Bedingungen für Innovationen sind bei uns in Deutschland wirklich super. Man muss nur die richtigen Leute finden, die sich etwas zutrauen.
Eberhart Zrenner
ist seit 1989 Professor für Augenheilkunde an der Universität Tübingen und Gründungsdirektor des Forschungsinstituts für Augenheilkunde. Zrenner (*1945) studierte zunächst Elektrotechnik und ab 1967 Medizin. Nach der Promotion in Humanmedizin an der TU München 1974 habilitierte er sich 1981 an der Universität Gießen in Physiologie. Von 1985 bis 1989 war er Professor für Augenheilkunde an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zrenner hat viele Auszeichnungen bekommen, darunter das Bundesverdienstkreuz am Bande (2002), den Karl-Heinz-Beckurts-Preis (2009), den Hector-Fellow Award (2013) und mehrere Ehrendoktorwürden. Zusammen mit Hugo Hämmerle, Leiter des Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Instituts in Reutlingen, ist er Vater einer Entwicklung, die Erblindete wieder ‧sehen lässt. Zrenner und Hämmerle erhielten 2014 den Reinhard von Koenig Preis für Technik und Fortschritt.