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Kultur & Gesellschaft

Altern hat Zukunft!?

Altern hat Zukunft - Wie sich unser Land trotz einer älter werdenden Gesellschaft erneuern kann

profil der wissenschaftlerin

Ursula StaudingerUrsula M. Staudinger ist Lebensspannen-Psychologin. Sie forschte unter anderem an der FU Berlin, am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und an der TU Dresden. 2003 wurde sie Gründungsdekanin an der damaligen International University Bremen (seit 2006 Jacobs University Bremen) des interdisziplinären Forschungsinstituts „Jacobs Center on Lifelong Learning and Institutional Development“. Sie ist gleichzeitig Vizepräsidentin der Universität. Seit 2007 ist die Professorin (Jahrgang 1959) zudem Vizepräsidentin der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina und seit 2008

Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.

Pressebericht

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bild der wissenschaft interviewt...

Die 4. Dimension des Lebens

Wie sich unser Land trotz der älter werdenden Gesellschaft erneuern kann, erklärt die Psychologin Ursula Staudinger.


bild der wissenschaft: Über die demographische Entwicklung der Deutschen ist viel geschrieben worden. Welche Zahlen gehören für Sie zu den überraschendsten und sind in der Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt, Frau Professor Staudinger? URSULA STAUDINGER: Viele wissen nicht, dass wir in den letzten 100 Jahren tatsächlich 30 Jahre an durchschnittlicher Lebenserwartung gewonnen haben. Wesentlichen Anteil daran hat die verringerte Sterblichkeit bei der Geburt – von Kindern wie von Müttern. Diese hat in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rasant abgenommen. Doch auch im Alter ab 60 hat die Lebenserwartung deutlich zugenommen – seit Ende des Zweiten Weltkriegs um fast 15 Jahre! Die zweite bemerkenswerte Entwicklung: 2030 werden in Deutschland genauso viele über 60-Jährige leben wie unter 30-Jährige. Was das für unsere Gesellschaft konkret bedeutet, kann sich heute kaum einer vorstellen.


Falten, Gebrechen, Vergesslichkeit – das Alter ist in der öffentlichen Diskussion eindeutig negativ besetzt. Wie lässt sich das ändern? Das ist eine einseitige Sicht, die auf Bildern der Vergangenheit basiert. Auch die öffentliche Diskussion über die „alternde“ Bundesrepublik ist stets einseitig negativ besetzt. Wann immer sich etwas grundlegend verändert, entstehen erst einmal Angst und Unsicherheit. Doch wer die Umbrüche genauer betrachtet, wird bemerken, dass krisenhafte Zuspitzungen sehr viele Chancen bieten. Im Hinblick auf das Altern heißt das, man muss ein offeneres und moderneres Bild des Alterns gelten lassen. Wissenschaftliche Befunde zeigen: Altern heißt nicht nur Abhängigkeit, Krankheit und Verlust der sozialen Rolle. Altern heißt auch: Zuwachs von Erfahrungen, Abrundung der eigenen Persönlichkeit, ein höheres Maß an Kenntnis und Bewusstsein über das, was man kann und was man nicht kann, sowie einen gelasseneren Umgang damit. Es ist außerdem falsch anzunehmen, dass die heute beobachteten Fähigkeiten und Schwächen Älterer unveränderbar sind. Ganz im Gegenteil: Entwicklung und Altern des Menschen sind beeinflussbar.


Was weiß man heute über die Veränderung der Persönlichkeit im Alter? Früher war man der Auffassung, dass die Persönlichkeitsentwicklung mit etwa 30 Jahren abgeschlossen sei. Doch neuere Studien haben gezeigt, dass wir mit zunehmendem Alter emotional stabiler werden, sozial umgänglicher und zuverlässiger. Das heißt: Ältere sind im sozialen Miteinander die verlässlicheren und stabileren Menschen. Andererseits verlieren Ältere aber auch oft die Offenheit gegenüber Neuem und lassen anderen weniger Raum: Die Dominanz nimmt zu. 

 
Heißt das, dass die demographische Entwicklung anders betrachtet werden muss? Wir sollten Möglichkeiten schaffen, dass man sich im Alter aktiver einbringen kann. Beispielsweise sollten Bildungsabläufe und Arbeitsbiografien flexibler werden …


… was deutlich längeres Arbeiten bedeutet? Wir müssen uns von den klar definierten Lebensmodellen der Eltern und Großeltern verabschieden und individuelle Pfade wählen.


Braucht es dazu einen Staat, der vorgibt, was zu tun ist? Vieles beim gesellschaftlichen Wandel ergibt sich aus den sich verändernden Umständen, aber nicht alles. Wir tun deshalb gut daran, die Entwicklung zu unterstützen. Menschen orientieren sich neben individuellen Interessen vor allem an Belohnungssystemen. Deshalb gibt es sie in der Wirtschaft und auch in der Gesetzgebung. Schon sehr kleine Veränderungen bei den Rahmenbedingungen können große Veränderungen in den Verhaltensweisen zur Folge haben. Wenn Politiker in den nächsten Jahren die Weichen so stellen, dass der Einzelne den demographischen Wandel erfolgreicher meistert, wäre das sehr wegweisend.


Zum Beispiel? Es sollte Anreize für das lebenslange Lernen geben. Und der Arbeitsmarkt sollte an die neuen demographischen Gegebenheiten angepasst werden – und zwar volkswirtschaftlich wie betriebswirtschaftlich. Konkret heißt das: Arbeitsabläufe und Arbeitsplätze müssen auf die altersbedingten Veränderungen der Arbeitnehmer ausgerichtet werden.


Für die meisten ist das Schlagwort vom lebenslangen Lernen eine Worthülse. So fühlen sich ältere Frauen und Männer bei betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen oft überfordert. Was wären denn die richtigen Formen des Lernens bei Älteren? Auf diese einfache Frage gibt es keine allgemeingültige Antwort. Das fängt schon damit an, dass sowohl altersgemischte als auch altershomogene Fortbildungskurse schiefgehen können.


Wie das? Gesonderte Kurse für über 50-Jährige können dazu führen, dass sich diese Gruppe ausgegrenzt fühlt. Bei gemischten Kursen haben Ältere dagegen oft Angst, schlechter als die Jungen abzuschneiden. Es hängt sehr viel davon ab, welches atmosphärische Altersklima in einem Unternehmen herrscht. Schwierig ist eine klare Antwort auch deshalb, weil wir zwar kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse haben, was wer in welchem Alter besser oder schlechter kann. Doch leider wissen unsere Fort- und Weiterbildungstrainer darüber kaum Bescheid. Aus diesem Grund ist es nötig, die Erwachsenentrainer selbst erst einmal über den Stand der kognitiven Entwicklungsforschung zu informieren. Ich bin sicher, dass danach der Lernerfolg bei jeder Altersgruppe besser wäre.


Gibt es denn die Bereitschaft zur Weiterbildung? Bis zur jetzigen Wirtschaftskrise wuchs sie. Die Unternehmen registrierten einen schmerzlichen Rückgang beim qualifizierten Nachwuchs und waren daher weit mehr als früher bereit, in ihr bestehendes Personal zu investieren. Durch den aktuellen Einbruch wird dies erst mal wieder nach hinten geschoben. Auch in der Politik weiß man über die Notwendigkeiten Bescheid. Doch auch hier werden zurzeit grundsätzliche und längerfristige Entscheidungen vertagt. Hinzu kommt, dass das Altern ein Querschnittsthema ist, das macht die Abstimmung nicht leichter.
Wir werden heute zwar im Schnitt drei Jahrzehnte älter als vor 100 Jahren. Doch nicht alle zusätzlichen Jahre sind ein Gewinn. Viele der sehr alten Menschen sind krank und haben nur noch wenig Spaß am Leben. An den gewonnenen Jahren ist auch ein wachsender Anteil aktiver Jahre. Die Geschwindigkeit, mit der wir uns verjüngen, ist beträchtlich: Mediziner sagen, dass ein heute 60-Jähriger biologisch etwa 5 Jahre jünger ist als in der Generation davor. Ob und wie weit das biologische Alter noch weiter verschoben werden kann, ist in der Alternswissenschaft heiß diskutiert. Vereinfacht gesagt gibt es zwei Lager: Das eine behauptet, das biologische Alter ist uns eingebaut und zeigt uns dementsprechend Grenzen auf. Diese Grenzen seien nach all den bisherigen Fortschritten nicht mehr durch Kulturleistungen wie bessere medizinische Versorgung, veränderten Lebensstil oder angepasste Arbeitswelt zu verschieben. Diese Fraktion sagt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung bald an ihrem Grenzwert angekommen sein wird.


Und was sagt das zweite Lager? Das ist sehr optimistisch: Demnach ist die biologische Grenze des maximalen Lebensalters noch lange nicht erreicht und wird auf 120, 125 Jahre geschätzt. Außerdem glaubt diese Fraktion, dass immer mehr gesund sterben werden. Der US-Mediziner Jim Fries hat in den 1980er-Jahren dazu gearbeitet. Er wurde lange belächelt, inzwischen diskutieren die Forscher ernsthaft darüber. Es gibt Hinweise: Durch gesundheitspolitische Maßnahmen wie das Rauchverbot kommt es zu einer Verlängerung der aktiven, gesunden Jahre. Das wird natürlich nicht verhindern, dass es eine weniger aktive letzte Phase im Leben gibt. Man würde einen Fehler machen, wenn man sich wünschte, dass bis zum Ende alles weitergeht wie zuvor: Die Schwächung des Körpers birgt die Notwendigkeit einer gewissen Demut. Die tut dem Einzelnen, aber auch der Gesellschaft gut.


Warum ist das wichtig für eine Gesellschaft? Dadurch wird über das eigene Leben rückblickend anders nachgedacht. In einer guten Konstellation kann diese Zeit auch für den alten Menschen eine neue Lebensphase sein.


Der missmutige Alte würde seltener? Die Hoffnung ist, dass unsere Gesellschaft der Vielgestaltigkeit auch beim Altern Raum lässt. Wer versucht, das Thema zu verdrängen, bekommt große Probleme mit dem Altern, das er jeden Tag an sich selbst feststellen kann.


Ihre Arbeiten belegen, dass Ältere mit dem Leben oft zufriedener sind als Jüngere. Wie passt das zusammen mit der Altersdepression? Vorsicht! Bei Themen wie der Altersdepression fühlt sich erst einmal jeder als Experte und entwickelt seine subjektive Theorie – mit dem Problem, dass diese auf einer kleinen Datenbasis beruht. Die auf einer breiten Basis aufbauenden Befunde sind ganz eindeutig und weltweit die gleichen: Die angeblich weitverbreitete Altersdepression entbehrt jeder Datengrundlage. Zwar gibt es Anzeichen für depressive Zustände im Alter, doch die sind in keiner Weise gleichzusetzen mit einer Depression. Den meisten älteren Menschen gelingt es, mit den Anzeichen des Alters klarzukommen. Selbst nach einem Schlaganfall, der zu einer ständigen Pflege führt, sind viele Menschen noch zufrieden. Nach einer gewissen Übergangsphase entwickelt sich auch bei ihnen vielfach wieder ein neues seelisches Gleichgewicht.


Sie forschen auch über Altersweisheit. Anders als früher oder anderswo auf der Welt spielen weise Alte bei uns keine Rolle. Man muss hier zwischen einer gesellschaftlichen Wertung unterscheiden und dem, was sich die Einzelnen von der Weisheit des Alters erhoffen. Eines der wenigen positiven Altersstereotype unserer Gesellschaft ist, dass wir glauben, mit dem Alter weiser, einsichtiger zu werden.


Doch das ist ein Vorurteil – wie Ihre Untersuchungen und viele andere belegen. In den vergangenen 20 Jahren haben wir über 1000 Menschen aller Altersstufen mit unserer Methode befragt. Ergebnis: Zwischen 12 und 25 Jahren wächst die Einsichtsfähigkeit für schwierige Lebensprobleme – was wir als weise definieren – mit jedem Jahr. In unserer 7-stufigen Skala (7 gleich weise) kommt man während dieser Zeit auf 2,5 bis 2,8. Dann geht es flach weiter. Im hohen Alter, ab 80, sehen wir dann einen schwachen Abwärtstrend.


Was folgt daraus? Jede menschliche Gemeinschaft ist offensichtlich so aufgebaut, dass sie versucht, den neuen Mitgliedern genug Lebenswissen mitzugeben, damit sie zurechtkommen. Und diese Bestrebungen saugen die jungen Menschen auf – ohne dass es dazu einer besonderen Motivation bedarf. Später wird es komplizierter. Wenn sich jemand bemüht, dieses Lebenswissen weiter zu vervollkommnen, geistig leistungsfähig und für neue Erfahrungen offen zu bleiben, geht es auch weiter bergan mit der Lebenseinsicht.


Aber nicht auf den Skalenwert 7. Meist wird ein Punktwert von immerhin knapp 3 erreicht. Selbst die Besten kommen vielleicht nur auf einen Wert von 5 oder 6. Fraglich ist, ob ein einzelner Mensch in seiner Lebenszeit überhaupt Weisheit erreichen kann oder ob das eher ein Ziel ist, das einem den Weg weist.


Macht uns Weisheit lebensfähiger im hohen Alter? Dazu braucht es keine Weisheit. Uns allen täte es gut, wenn wir die gewonnenen Jahre, in denen wir weitgehend gesund sind, besser nutzen würden. Wichtig ist, dass die Gesellschaft attraktive Rollen anbietet, für die sich der Einzelne engagiert, weil er dann im Alter auf die gesammelten Erfahrungen seines Lebens bauen kann. Das ist heute leider immer noch sehr stark bildungsabhängig. Hier etwas zu ändern, wäre sehr wichtig. Es sollte möglich sein, sich auch nach dem Übergang in den Ruhestand noch gesellschaftlich zu betätigen. Darüber hinaus sollten wir uns bewusster mit unserem Lebensstil auseinandersetzen – mit Ernährung und Bewegung. Da habe ich die Hoffnung, dass wir die nachwachsenden Generationen schon im Kindergarten an anderes Verhalten gewöhnen. Das würde es dem Einzelnen ersparen, oder es zumindest erleichtern, immer wieder den inneren Schweinehund überwinden zu müssen. Meine Hoffnung ist überdies, dass Arbeitgeber zunehmend attraktive Angebote schaffen, die Ältere gerne annehmen. Wir wissen aus Untersuchungen, dass viele Menschen nach dem Eintritt in den Ruhestand noch gerne arbeiten würden. Nicht aus Pflicht und via Qual, sondern aus Lust und Interesse.


Sie arbeiten in einem Expertenkreis mit, der soeben dem Bundespräsidenten Vorschläge zur Bewältigung des demographischen Wandels gemacht hat. Können Sie die Empfehlungen der Akademiengruppe „Altern in Deutschland“ kurz zusammenfassen? Der Gewinn an Lebenszeit stellt ein noch unausgeschöpftes Fortschrittspotenzial dar. Um dieses Potenzial zu nutzen, sind Mut und Wille zur Veränderung nötig. Wir brauchen beispielsweise einen Arbeitsmarkt, der sogenannte zweite Karrieren in nicht angestammten Arbeitsbereichen oder Branchen ermöglicht. Wir brauchen in den Unternehmen eine bessere Arbeitsorganisation, die sich verändernde Leistungs- und Qualifikationsprofile berücksichtigt. Wir müssen das Konzept eines streng dreigliedrigen Lebenslaufs – Ausbildung in der Jugend, Berufstätigkeit im Erwachsenenalter, Ruhestand im Alter – aufweichen und die Wahl unterschiedlicher Lebenswege erleichtern.


Wie bereiten Sie sich auf das Alter vor, Frau Staudinger? Die Gestaltung meiner beruflichen Laufbahn wird mir auch dann wichtig sein. Bisher habe ich es immer geschafft, mich neuen Aufgaben zuzuwenden, wenn ich gespürt habe, so langsam in Gewohnheiten zu erstarren. Ein zweiter Aspekt sind die Lebensformen im Alter. Heute wird man damit in unserer Gesellschaft oft allein gelassen. Mit meinem Mann werde ich versuchen, rechtzeitig Weichen zu stellen und eine Wohnform zu schaffen oder zu suchen, die es erlaubt, auch später, wenn man auf Hilfe und vielleicht auch Pflege angewiesen ist, dort wohnen zu bleiben.

 


Das Gespräch führten Wolfgang Hess und Cornelia Varwig für bild der wissenschaft 5/2009

bildnachweise

Ursula Staudinger: Jacobs University

Gebäude der Jacobs University in Bremen: Jacobs University

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