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Aktuelle Nachrichten | Kast, Ingrid | 24.10.2023 – 10.12.2023
Literatur tanken und in Bewegung bleiben
HerbstLese: Lange Lesenacht im Hölderlinhaus mit viel Gegenwartsliteratur
Gratulation zur HerbstLese! Der Jahrgang 2023 ist ein überaus bekömmlicher, und ein sehr schöner, denn: „Ein Hölderlinhaus ist schön. Macht aber viel Arbeit!“ Frei nach Karl Valentin (oder dem von Valentin kolportierten Zitat aus der Film-Oper „Die verkaufte Braut“) möchte man Initiatoren und Organisationsteam der HerbstLese beglückwünschen. Sie haben weder Arbeit noch Mühen gescheut, um das geschichtsträchtige Haus auf’s Neue zu beleben. Am 20. Oktober öffnete das Haus seine Pforten für fünf Stunden zur Langen Lesenacht.
Das Publikum hat sich im Hof versammelt, vom Fachwerk-Balkon begrüßt Uwe Ehrenfeld die Menge mit einem Gedicht. Den Inhalt (Missbrauchte Liebe), dramatisch inszeniert (ein Schaukampf zwischen Löwe, Tiger, Leoparden) und zugespitzt (Fräulein Kunigunde lässt ihren Handschuh zwischen die Raubkatzen fallen und fordert den Ritter auf, ihn zurückzubringen) hat Schiller in schwungvollen Versen zu einem poetischen Meisterwerk verarbeitet. „Der Handschuh“ – wer kennt ihn nicht – endet mit einer genialen Pointe: „Und mit Erstaunen und mit Grauen Sehen’s die Ritter und Edelfrauen Und gelassen bringt er den Handschuh zurück. Da schallt ihm sein Lob aus jedem Munde, Aber mit zärtlichem Liebesblick – Er verheißt ihm sein nahes Glück – Empfängt ihn Fräulein Kunigunde. Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht: Den Dank, Dame, begehr ich nicht, Und verlässt sie zur selben Stunde.“
Mit dem Hunger auf Literarisches tigern die Besucher durchs Haus. An fünf Orten (Keller, Erdgeschoss, Saal Hofcafé, erstes und zweites Obergeschoss) gibt es zu jeder vollen Stunde eine Fütterung: Wer sich beispielsweise vom Keller (20 Uhr) über das Erdgeschoss (21 Uhr) in die beiden Obergeschosse (22 und 23 Uhr) bewegt, dessen Hunger wird von Marian Kopp mit Paul Austers „4 3 2 1“, gefolgt von Siegfried Lenz‘ „Tote Briefe“, gelesen von Karl-Ernst Schmitt, gestillt oder von Alice Munro, die Ulrike Kieser-Hess dabei hat oder mit „Gute Knochen“ von Margaret Atwood, präsentiert von Katharina Altmann - Auswahl zuhauf. Einen kräftigen Biss in einen Apfel gibt es bei Bettina Keßler, die den Abend mit Dörte Hansens Debütroman „Altes Land“ ausklingen lässt.
Wer es allerdings an einem Ort, beispielsweise im Saal des Hofcafés gemütlich findet, könnte hier verweilen und sich von Fabian Goppelsröder „Johann Peter Hebel“ als Amuse geule servieren lassen um dann, kredenzt von Coretta Ehrenfeld, statt eines Hauptgangs hochprozentige Spirituosen philosophisch-literarischer Art (Saša Stanišić „Herkunft“ und Gilles Deleuze/Félix Guattari „Rhizom“) reichen zu lassen.
Der dritte Gang, heiter surreales Naschwerk aus der Feder von Mark Twain, angeboten von Christoph Kraft. Der reiselustige Amerikaner hat nicht nur einen satirischen Essay über „die schreckliche deutsche Sprache“ („The Awful German Language“) verfasst, sondern auch eine schlaflose Nacht in Heilbronn verbracht – Vorsicht, seine Texte können Spuren von Suchtmitteln enthalten.
Eine Stunde vor Mitternacht lädt Uwe Grosser zum Grusel-Finale zu Bram Stokers „Dracula“ ein.
Die Lange Lesenacht ist eine Symbiose aus Flanieren wie bei einem Museumsbesuch und konzentriert Lauschen wie bei einer Lesung. Die Vorlesezeit von jeweils einer halben Stunde gibt Gelegenheit zum anschließenden Gedankenaustausch. Noch etwas benebelt von Benjamin Myers‘ Roman „Offene See“ erzählt Katrin Rauhut, dass sie die Geschichte eines Jungen aus dem Bergarbeitermilieu schon gelesen habe: „Mein Schwiegervater kommt aus dem Ruhrpott. Es ist toll, wenn man die Geschichte von jemand anderem vorgelesen bekommt.“ Sie habe den Text ganz anders verstanden, gesteht die Nordheimerin: „Ich glaub, ich muss das Buch
noch einmal lesen“.
Klaus-Peter Waldenberger liest Annie Ernaux, „eine der prägendsten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur“ kennt man seit die 82-Jährige 2022 den Literatur-Nobelpreis erhalten hat. Viele Besucher schätzen die Gelegenheit, die Autorin, deren „Mut und klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, so die Jury des Nobelpreises, näher kennenzulernen. Und zu erfahren, dass mit „Ereignis“ ein Schwangerschaftsabbruch gemeint ist. Sachlich, nüchtern, minimalistisch pirscht sie sich an diesen damaligen Tabubruch heran.
„Ereignis“ ist mit gerademal 100 Seiten ein schmales Werk, insbesondere im Vergleich mit dem 1250 Seiten starken Wälzer „4 3 2 1“ von Paul Auster. Fürchten müsse man sich davor nicht, denn man könne diese „Reise durch hormonelle, psychische, politische und lyrische Qualen“ auch über einen längeren Zeitraum lesen, ohne den Faden zu verlieren, so Marian Kopp, der das Werk auch ins Bett und Freibad mitgenommen hat. Eine Freundin habe das Buch, das vier Varianten einer Biografie beschreibt, handlich gevierteilt.
Prophylaxe betreibt Coretta Ehrenfeld: Man müsse die philosophischen Texte des Autorenduos Deleuze/Guattari nicht unbedingt verstehen. Sie sollen lediglich zur Inspiration anregen. Deshalb lese sie auch nur zwei Seiten aus „Rhizom“ vor, worin es um die Frage geht: Was ist ein Buch? Von Gefügen, Mannigfaltigkeiten und Intensitäten ist die Rede. Den Philosophen werde immer vorgeworfen, sich an den Literaten zu orientieren. Jedoch werde das Buch immer umfassender, je fragmentarischer es sei. Eine These, die auf merkwürdige Art mit den anekdotischen Kostproben aus Saša Stanišić‘ „Herkunft“ korrespondieren.
Fazit: Das Hölderlinhaus lebt, ist durchpulst von Literatur, die in ihrer Mündlichkeit eine enorme Dynamik gewinnt. Jeder Besucher ist sein selbstverantwortlicher Kurator, stellt sich das Programm nach eigenem Gutdünken zusammen, wissend, dass er nicht alles haben kann. Snacks und Getränke stehen zur Verfügung, Ermüdung ist während der rund fünf Stunden nicht zu beobachten – im Gegenteil: Literatur tanken heißt in Bewegung bleiben. Zur Wiederholung empfohlen.
Text u. Fotos: Leonore Welzin